8
Der Frühling war wechselhaft und unfreundlich, ein paar schöne Tage, dann ein wilder Südwestwind und Regenstürme. Aber als die Lämmer alle auf der Welt waren, wurden Larry und ich von den meisten Pflichten auf der Farm befreit. Die Männer arbeiteten noch immer sehr schwer, denn abgesehen von der Futterknappheit war es auch noch ein >Zwillingsjahr< gewesen. Zuviele Mutterschafe hatten zwei Lämmer geboren, wollten aber nur eines übernehmen. So waren die Männer ständig im Einsatz, und immer wieder mußten Schäfchen in den extra angefertigten Gattern aufgezogen werden, die unsere vordere Koppel verunstalteten. Dabei halfen wir, aber wir mußten nicht mehr den ganzen Vormittag durch die hinteren Koppeln reiten.
Der September ging mit Stürmen in den Oktober über, und eines Tages, als es besonders kalt und regnerisch war, mußte ich Besorgungen in Tiri machen. Ich trank gerade mit Tantchen Tee, als Tony hereingestürzt kam und fragte, ob man ohne sie auskommen könne. In irgendeiner entlegenen Straße war ein Kind schwer erkrankt. Dr. Barrett wußte nicht, was ihm fehlte, denn sie hatten ihn morgens nur kurz angerufen, aber jetzt wollte er dorthin fahren. Wenn es nötig war, wollte er das Kind zum Krankenhaus in Te Rimu bringen.
»Das kann er nicht allein, und die Mutter kann nicht mitfahren. Sie hat noch drei Kinder, und ihr Mann ist mit Melken beschäftigt und hat große Schwierigkeiten mit einer Kuh, die gerade kalbt. Was für ein Leben, wenn man sein Kind nicht ins Krankenhaus bringen kann, obwohl es schwer krank ist!«
»Natürlich kannst du gehen, aber wie weit entfernt ist denn diese Farm?«
»Es ist die Selkirk-Farm, ungefähr fünfzehn Meilen entfernt, durch das ganze Tal hindurch, und die letzte halbe Meile des Weges ist nicht geschottert. Wir werden wahrscheinlich Ewigkeiten brauchen.«
Ich sagte: »Das klingt ziemlich schlimm, Tony. Soll ich mitkommen und bei dem Kind helfen? Hier werde ich nicht dringend gebraucht. Paul ist für heute mit seiner Arbeit fertig, er kann also im Haus sein, wenn die Kinder zurückkommen. Was fehlt dem Kind? Hat Oliver schon eine Vorstellung?«
»Ich weiß nicht. Wahrscheinlich kann er das erst beurteilen, wenn er es sieht. Es wäre schön, wenn du mitkämst.«
»Vielleicht ein phantasierendes Kind, eine schlechte Straße und ein aufkommender Sturm«, kommentierte Tantchen. »Das klingt wie in alten Zeiten, nicht wahr, Susan? Ja, ich halte es für besser, wenn du Paul anrufst und ihm sagst, er soll dich vor morgen früh nicht zurückerwarten. Wenn du nach Hause kommst, wirst du müde sein, du würdest besser hier schlafen.«
Paul war nicht sehr begeistert. »Ich kenne die Selkirk-Farm. Letzten Herbst habe ich mir seine Kälber angesehen. Es ist eine scheußliche Straße, schon schlecht genug, bevor man zu der halben Meile Lehmweg kommt. Hat Barrett Ketten?«
»Natürlich, außerdem sind wir alle drei gute Fahrer und an schlechte Straßen gewöhnt. Mach dir keine Sorgen, Paul. Bist du sicher, daß du mit dem Abendessen für die Kinder zurechtkommst?«
»Die Kinder? Lieber Himmel, warum sollte ich mir da Sorgen machen?« fragte Paul leichtfertig, wie es die Männer zu tun pflegen, wenn sie von den Pflichten ihrer Frauen sprechen. »Natürlich kommen wir zurecht, wir werden am brennenden Feuer sitzen und an euch denken, wie ihr euch auf dieser schlammigen Straße voranarbeitet. Warum kann der Bursche das Kind nicht selbst bringen?«
»Einmal, weil eine seiner Kühe kalbt und er keine Hilfe hat, und zweitens, weil er ein schreckliches Auto hat, auf das kein Verlaß ist. Außerdem muß man auf jeden Fall zu zweit sein, denn das Kind phantasiert. Oliver weiß nicht genau, was ihm fehlt, bevor er es nicht gesehen hat. Dann wird er beschließen, ob er es ins Krankenhaus bringt. Vielleicht ist es nicht so schlimm, wie sie glauben.«
Sobald Oliver mit seinen beiden letzten Patienten in der Sprechstunde fertig war, machten wir uns auf. Ich lieh mir Ölzeug und die anderen waren genauso angezogen. Wir sahen überhaupt nicht wie ein Ärzteteam aus, aber wir wußten, daß uns eine schlimme Reise erwartete, und wir wollten dafür gerüstet sein.
Die ersten fünfzehn Meilen waren schon schlimm genug. Natürlich kein einziges Stück geteert, nur sehr grober Schotter, gefährliche Kurven und eine starke Abschüssigkeit. Aber wir alle kannten solche Straßen, und Oliver fuhr. Er war kein absoluter Experte wie Paul oder Sam, aber er fuhr gut, und wir lenkten ihn nicht durch Reden ab. Es war ein unfreundlicher Nachmittag, der schon fast in eine regnerische Dämmerung überging, und als wir an die Ecke kamen, wo der Weg zu Selkirks einfacher Farm beginnt, war es schon fast dunkel.
Oliver bremste, er und Tony sprangen hinaus, um die Ketten aufzuziehen. Sie verstand fast genauso viel davon wie er, und man konnte leicht sehen, daß sie gewöhnt waren, zusammenzuarbeiten. Sie bestanden darauf, daß ich im Auto blieb, um die Räder hin und her zu bewegen, und nun fuhren wir wieder los, einen schmalen kurvigen Buschweg hinunter. Selbst mit Ketten rutschte und schlitterte der Wagen, ein- oder zweimal kam er sogar gefährlich nahe an den äußeren Rand, der in eine steile, überwucherte Schlucht abfiel. Ich war froh, als wir die halbe Meile geschafft hatten und zu einem kleinen Haus kamen, das tapfer in einem Garten stand und aus dessen Fenstern gedämpftes Licht fiel. Es war ein neues kleines Haus. Wie der Doktor mir erzählte, war Selkirk erst seit zwei Jahren auf der Farm und mußte sich schwer durchkämpfen. Er hatte siebzig Kühe allein zu melken, seinen Rahm auf einem Schlitten bis zur Ecke zu fahren und verdiente nur eben das Notwendigste. Nun hatte ihn auch noch die Krankheit überrascht, und sie hätte sein letztes Geld verbraucht, hätte Oliver nicht gesagt: »Ich komme ’raus, um nach dem Kind zu sehen... Das können Sie sich nicht leisten? Unsinn. Dafür nehme ich nichts, und das Krankenhaus ist unentgeltlich.«
Tony hatte den Schluß seines Telefongesprächs mitgehört, und während wir unser Ölzeug anzogen, erzählte sie mir mit ganz feuchten Augen davon. Welche Aussichten blieben Peter Anstruther gegenüber diesem Ritter in glänzender Rüstung?
Die Selkirks mochte ich sofort gern, und sobald ich ihre Schwelle überschritt, fühlte ich mich um Jahre zurückversetzt in die Zeit, als wir noch an einem ungeschotterten Weg wohnten, ohne Strom, nur mit Kerzen und einem Holzofen. Damals waren wir noch jung und standen am Anfang unseres Lebens im Hinterland. Dieser Mann und seine Frau waren nicht mehr jung. Ich schätzte sie auf ungefähr dreißig und ihn ein paar Jahre älter, aber man konnte sehen, wie schwer ihr Leben gewesen sein mußte und noch war. Sie waren gerührt vor Freude, uns zu sehen, und Oliver äußerst dankbar, daß er sich so bemühte.
»Man findet kaum einen Arzt, der an einem solchen Abend ’rausfährt und noch sagt, daß er nichts berechnet«, flüsterte der Mann mir zu, als seine Frau und Oliver zu dem kleinen Patienten gingen.
Es war ein kleines Mädchen von ungefähr neun Jahren, das hohes Fieber und ein gerötetes Gesicht hatte. Sie sprach mit sich selbst und schien nicht einmal ihre Eltern zu erkennen. Der Vater hatte inzwischen das Feuer angemacht, brachte den Kessel zum Kochen und goß in der Küche geschickt Tee auf, während die anderen kleinen Kinder herumstanden und uns von der Tür aus scheu ansahen. Es war ein sauberes, ordentliches kleines Haus, nur drei Schlafzimmer, Wohnzimmer und Küche sowie ein angebautes Badezimmer. Die Kinder waren sauber und gut gepflegt und es war leicht zu erkennen, daß es ihnen an Liebe nicht fehlte. Oliver und die Mutter kamen aus dem Schlafzimmer zurück.
Oliver sagte: »Wir bringen sie sofort ins Krankenhaus. Nein, wir kommen schon zurecht. Wenn wir erst einmal in Tiri sind, wird es ganz einfach sein.«
»Aber diese schrecklichen Hügel und die schlammige Straße und all diese Kurven, bis Sie nach Tiri kommen«, stammelte die Frau.
»Das ist kein so großes Problem, Ihr Mann will uns begleiten bis zur Ecke und nimmt dort die Ketten ab«; dann ging Oliver zum Telefon, um das Krankenhaus anzurufen, damit alles für unsere Ankunft vorbereitet wurde.
Inzwischen regnete es fester, ein Dauerregen, wie man ihn an der Westküste erlebt, heftige dichte Wassergüsse, die nie aufzuhören schienen, und mit dem Regen war es auch dunkel geworden. Ich war froh, daß Selkirk sich um die Ketten kümmerte, denn Tony und ich würden mit dem kleinen Mädchen alle Hände voll zu tun haben. Jetzt half Tony der Mutter, sie in mehrere Decken zu wickeln und sagte ihr, wir würden uns beide nach hinten setzen und sie über unsere Knie legen. Sie war so unruhig, daß eine Person sie kaum hätte halten können; ich war froh, daß ich mitgefahren war.
Wir tranken schnell den Tee und genossen die dicken Scheiben frischen Brotes, das Mrs. Selkirk selbst gebacken hatte. Dann fuhr Dr. Barrett mit Selkirks Hilfe den Wagen durch den Garten bis vor die Haustür, die Decken wurden nun mit Ölzeug überzogen und das Kind fest darin eingewickelt. Tony und ich hatten uns schon hinten zurechtgesetzt und nahmen das Kind auf unsere Knie, während sich Oliver von der Mutter verabschiedete.
»Machen Sie sich nicht zu große Sorgen. Sobald wir im Krankenhaus sind, ist sie in den besten Händen. Ein Kind mit hohem Fieber sieht oft schlimmer aus als es ist. Bis morgen früh haben sie herausgefunden, was ihr fehlt, und dann ist sie über den Berg. Ich werde Sie anrufen, wenn wir heute abend zu Hause ankommen, und Sie über die Lage informieren.«
»Aber Doktor, Sie werden doch Stunden brauchen, bis Sie ankommen, und es scheint ihr so schlecht zu gehen?«
Er war ganz zuversichtlich. »Wir brauchen etwas mehr als eine Stunde bis Tiri. Von da aus ist es kein Problem mehr und nur noch eine kurze Fahrt von weniger als einer Stunde bis zum Krankenhaus. Um acht Uhr wird Ihr kleines Mädchen schon gut eingepackt in ihrem Bettchen liegen; ich rufe an, sobald ich zu Hause ankomme.« Kein Wunder, daß Tony in ihn verliebt war; diese Leute sahen ihn an, als wäre er ein Gott. Selbst ich, die sonst leicht an ihm herumnörgelte, war völlig für ihn eingenommen. Er war außerordentlich ruhig und tüchtig, ein Mann, dem man sein Kind ruhigen Gewissens an vertrauen konnte und wußte, daß es wieder gesund würde. Sie strömten über vor Dankbarkeit; ich spürte einen Kloß in der Kehle, als ich mich umblickte und sah, wie die Mutter, an die sich die Kleinen klammerten, am Tor stand und weinte.
»Wo ist Ihr nächster Nachbar?« fragte Oliver Selkirk, der neben ihm saß, um die schrecklich dreckigen Ketten abnehmen zu können, sobald wir die Ecke erreichten, und dann zu seinem einsamen kleinen Haus zu Fuß zurückzukehren.
»Ungefähr drei Meilen entfernt die geschotterte Straße hinunter. An diesem Weg hier liegt sonst nichts, deshalb ist er auch nicht geschottert; aber wir haben Telefon und Miss Adams versorgt uns.« Ja, es war wirklich wie in den Jahren, als wir noch ganz wenige Nachbarn hatten und das Telefon unsere einzige Verbindung mit der Welt war. Ich war damals froh gewesen, daß diese notdürftige Leitung mit Tantchens Laden verbunden war. Sie ließ niemals jemanden im Stich.
Gehörte Dr. Barrett zu diesen Menschen? Wenn ich Tonys Gesicht sah, ihm bewundernd zugewandt, konnte ich nicht mehr zweifeln, daß sie daran glaubte. An diesem Abend hatte er sich erstaunlich gut verhalten und die Notlage durchgestanden, als hätte er immer auf dem Lande und nicht in einer Stadt gelebt. Aber wie lange würde er mit diesem Hinterland zufrieden sein? Er war nun schon länger hier draußen, als er versprochen hatte. Ich meinte zu spüren, daß trotz seiner Gewissenhaftigkeit ab und zu Unruhe, ja fast Ungeduld in ihm war. War Tony durch ihre Liebe so blind geworden, daß sie es nicht auch empfinden und mit ihm fühlen konnte?
An der Ecke nahm Selkirk geschickt die Ketten ab. Er wollte den Arzt nicht aussteigen lassen, sondern verstaute sie im Handumdrehen in einem Sack im Kofferraum. »Daran bin ich gewöhnt«, sagte er kurz. »Wenn wir nicht unbedingt gezwungen sind, gehen wir im Winter nicht ’raus, aber wenn wir wegfahren müssen, geht es nur mit Ketten, es sei denn, wir hätten eine Woche lang trockenes Wetter gehabt.« Dann steckte er seinen Kopf zum Fenster hinein, die Worte fielen ihm schwer. »Ja, Doc, ich kann nicht viel sagen, aber Sie wissen, was ich empfinde«, und mit einem letzten Blick auf das fiebrige bewußtlose Kind auf der Hinterbank grüßte er uns kurz, murmelte noch einmal »Vielen Dank« und wandte sich seinem Rückweg auf der schlammigen Straße zu.
Ich spürte, daß sich Oliver nicht so gern »Doc« nennen ließ, aber er lächelte freundlich und winkte noch einmal zum Abschied, als Selkirk wegging. »Ein guter Kerl«, sagte er, und dann vergaß er ihn wohl völlig und konzentrierte sich auf die ihm bevorstehende Aufgabe. Mußte ein guter Arzt nicht so sein?
Bis Tiri war die Fahrt der reinste Alptraum. Es regnete in Strömen, und die Scheibenwischer schafften es kaum. Die Steigung war schwierig und die Haarnadelkurven haarsträubend, wenn wir sie schließlich einsehen konnten. Aber es blieb uns kaum Zeit, nervös zu sein, denn das Kind nahm unsere ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Es war ein kräftiges kleines Mädchen, das von Unrast geplagt wurde. Wir hatten alle Mühe zu verhindern, daß sie sich hin und her warf, und sie murmelte und schrie herzzerreißend.
»Sie ist doch sicher sehr krank?« flüsterte ich Tony zu.
»Es scheint so, aber Oliver wird sie schon gesund machen. Ist er nicht bewundernswert?«
Ich stimmte ihr wieder zu, diesmal aus vollem Herzen. In der Dunkelheit konnte ich mir die leuchtenden Augen, die schönen, leicht geöffneten Lippen, all diese Merkmale eines jungen Mädchens vorstellen, das ein Idol liebt, welches am Ende zwangsläufig seine tönernen Füße zeigen muß. Ich seufzte wie eine abgeklärte Frau und kam zu dem Schluß, daß da überhaupt nichts zu machen war. Die abenteuerliche Straße, das schreckliche Wetter, die einsame Farm, die heldenhafte Rettung, die Geste >keine Rechnung< — , das alles war wie aus einem Fernsehstück, und trotzdem waren diese Dinge Olivers starke Verbündete. Solange er sie behielt, würde ihm Tony zu Füßen liegen.
Sobald wir Tiri erreicht hatten, war das Schwerste überstanden. Wir hielten nur kurz an, um Tantchen zu beruhigen und sie um einen Anruf bei Paul zu bitten; dann fuhren wir schnell und ohne Schwierigkeiten zum Te-Rimu-Krankenhaus. Als wäre die kleine Patientin durch die leichtere Fahrt beruhigt, verfiel sie in tiefen Schlaf, Tony und ich konnten uns ausruhen. Die gute Straße ermöglichte es Oliver, sich ab und zu umzudrehen und ein Wort mit seiner ihm ergebenen Sklavin auf dem Hintersitz zu tauschen. Sklavin oder Sklavinnen? An diesem Abend war ich ganz auf der Seite des Doktors, eine Tatsache, die ich später nie vergessen sollte. So konnte ich vieles leichter verstehen.
Im Krankenhaus wurden wir schon erwartet. Oliver war dort offensichtlich sehr beliebt. Die Schwester, die uns begrüßte, war entsetzt über die späte Stunde, das schlechte Wetter und den Zustand, in dem sich der Wagen des Arztes befand. Ihm schien das gleichgültig zu sein.
»Ein schlammiger Weg, aber man hat uns mit den Ketten geholfen. Mir geht es gut, aber die Mädchen sind wahrscheinlich müde. Sie hatten den schwereren Teil der Arbeit und sie werden froh sein, zu Hause ihr Bett zu sehen.«
Die Schwester sah uns gleichgültig, den Doktor jedoch bewundernd an. Es war nicht nett von mir zu denken, daß er diesen Blick genoß; wer von uns freut sich nicht über Bewunderung und ein bißchen Heldenverehrung?
Sie hoben das Kind in seinem Paket aus Decken aus dem Wagen und trugen es in Begleitung von Dr. Barrett ins Krankenhaus. Die Schwester kam sofort zurück und lud uns in ihr Wohnzimmer ein, wo eine junge Schwester uns Kaffee und Brote brachte. Sie sah Tony sehr interessiert und etwas neidisch an. Offensichtlich hatte es sich bei dem kleinen Personalstab sofort herumgesprochen, daß Oliver sie als »meine Verlobte« vorgestellt hatte, und noch ein oder zwei junge Dinger fanden eine Ausrede, um das glückliche Mädchen sehen zu können, das das Große Los gezogen hatte.
Als wir allein waren, sagte ich zu Tony: »Du bist heute abend hier von größtem Interesse«, und sie lachte.
»Ich wünschte, ich würde Oliver mehr Ehre machen. Sie bewundern ihn alle, findest du nicht? Wahrscheinlich fragen sie sich, was er an einem so schmutzigen nassen Ding wie mir finden kann. Schwesterntrachten sehen immer so vorteilhaft aus.«
»Drillich und Ölzeug auch, wenn du im Glanz eines Helden erstrahlst. Diese kleine Schwester hat bestimmt gedacht: >Wenn ich nur dem Doktor so helfen dürfte!<«
»Sie hat sich wahrscheinlich eher gefragt, wie es mir gelungen ist, einen so wunderbaren Mann zu bekommen. Denn er ist wunderbar, nicht wahr, Susan?«
Wieder stimmte ich zu, diesmal mitfühlend und aufrichtig. Ich dachte: »Wenn er nicht mehr hier ist und in seinem Beruf Karriere gemacht hat, woran kein Zweifel besteht, werden sich alle an heute nacht erinnern und sagen: >Das war ein Doktor, der meilenweit durch Unwetter gefahren ist, um armen Leuten zu helfen, die ihm nichts bezahlen konnten — so ist er<.« Ja gewiß war Oliver wunderbar. Jetzt kam er zurück und trank seinen Kaffee, den Tony ihm liebevoll eingegossen hatte. Er sah fröhlich aus. »Sie wird wieder gesund. Ich habe den Vater von hier aus angerufen. Ich wollte ihn nicht warten lassen, bis wir zurück in Tiri sind. Heute nacht werden sie schlafen.«
Auf der Fahrt nach Hause waren wir glücklich, erschöpft und still. Ich bestand darauf, daß Tony sich neben ihren Doktor setzte, und so konnte ich etwas unruhig, aber voller Bewunderung beobachten, wie gut er mit einer Hand Auto fahren konnte.
Tony war sehr müde. Wohl weniger körperlich, denn sie war sehr kräftig, als seelisch. Sie sagte: »Oh, Tantchen, es war so traurig. Dieses einsame kleine Haus und diese arme Frau... Aber Oliver hat geholfen.«
Darüber lächelte er zärtlich. »Geh schlafen, Liebling, du zitterst ja. Wozu ist denn wohl ein Arzt da?« und ich fand, das war der richtige Kommentar und ein phantastischer Abgang.
Tony folgte und sank ins Bett. Ich teilte das Zimmer mit ihr, kam aber nicht sofort nach. Ich spürte, daß ich nicht noch einmal hören konnte, wie wunderbar Oliver war. Er verabschiedete sich sehr fröhlich und gelassen, aber als er ging, sagte er: »Ich danke dir, Susan. Du hast sehr geholfen, was gar nicht deine Aufgabe war.« Ich wollte sagen: >Und wie ist es mit Tony? Ihre Aufgabe war es auch nicht.< Aber ich ließ es bleiben, denn es war nicht der richtige Augenblick. Als er gegangen war, sagte ich zu Miss Adams: »Bleiben Sie noch eine Minute.«
»Sie sind müde, Susan. Sie brauchen keine Angst zu haben, daß Sie das Kind stören. Sie schläft bestimmt schon.«
»Ich weiß, aber es ist schön, Sie zu sehen... Tantchen, er ist wirklich ein guter Mann, nicht wahr? Er war heute abend einfach zu jedem wundervoll, zu den besorgten Eltern und dem kleinen Mädchen, und dann der bewundernde Empfang im Krankenhaus. Dazu noch diese Bemerkung am Schluß — >Wozu ist ein Arzt denn da?<.«
»Ja, wirklich wunderbar. Sie werden ihn hier heiligsprechen, wenn er weg ist.«
»Und Tony? Wird das ausreichen, wenn er ihr sagt, daß er geht, oder wird sie glauben, daß er sie im Stich gelassen und seiner wahren Pflicht den Rücken gekehrt hat?«
»Wenn sie das tut, hat sie sehr unrecht. Tony darf nicht denken, daß sie jemandem sein Leben diktieren kann, daß sie von einem begabten jungen Mann erwarten kann, keinen Ehrgeiz zu haben und sich mit einem Leben im Hinterland zufriedenzugeben.«
»Das weiß ich, aber ich glaube, das wird sie tun.«
»Wenn sie das tut, handelt sie nicht nur falsch, sondern auch dumm. Und sie liebt ihn nicht richtig, sie liebt nur das, wozu sie ihn gemacht hat, nämlich zum Retter des Hinterlandes. Je früher sie das alles herausfindet, um so besser.«
»Das finde ich auch, aber Oliver sagt nichts... Glauben Sie, daß sie ihn liebt?«
»Im Augenblick ja. Ich bezweifle nur, daß es hält. Ich glaube, wenn sie merkt, daß Oliver an seine Karriere denkt, daß er nicht lange hier bleibt, dann wird das der beste Test sein.«
»Und wenn sie sich entschließt, mit ihm zu gehen, wie wird sie dieses Leben nehmen?«
»Wie jede Frau, die sich ihrem Mann anpassen muß... Susan, Sie sind müde. Es war ein anstrengendes und aufregendes Erlebnis. Quälen Sie sich nicht mit Sorgen um Tony. Gehen Sie ins Bett.«
Das hatte ich auch vor, aber an der Tür hielt ich inne und fragte völlig ungerechtfertigt: »Sagen Sie mir, Tantchen, meinen Sie, daß Tonys Geld etwas damit zu tun hat? Oliver muß doch wissen, daß sie eines Tages viel Geld haben wird und eine große Mitgift, wenn sie heiratet. Hätte er sich auch in sie verliebt, wenn sie nur ein hübsches kleines Ladenmädchen gewesen wäre?«
Miss Adams klopfte mir aufmunternd auf die Schulter. »Sie müssen völlig fertig sein, Susan, aber trotzdem sollten Sie sich schämen, nach Erklärungen zu suchen und den Dingen bis auf den Grund zu gehen. Wie kann irgend jemand von uns die Gründe eines anderen erkennen? Ich glaube, Dr. Barrett ist sehr in Tony verliebt; sie ist ein bezauberndes Mädchen, und die meisten Männer würden ihn verstehen. Aber...«
»Sprechen Sie weiter, Tantchen. Seien Sie ehrlich.«
»Na ja, für einen ehrgeizigen jungen Mann ist eine Frau mit Geld immer eine Hilfe. Oliver ist ein sehr guter Arzt, er geht in seiner Arbeit auf, ist gewissenhaft und ehrgeizig. Aber er ist nicht dumm«, und mit diesen Worten schickte sie mich entschlossen zu Bett.
Tony und ich schliefen acht Stunden lang, und als ich aufwachte, schämte ich mich, daß ich Miss Adams mein Herz ausgeschüttet und einem Mann, den ich mochte und bewunderte, unlautere Motive unterstellt hatte. Ich hatte nach Anreizen gesucht, wollte Geheimnisse auskundschaften, — wie man es auch drehte, es war eine Unverschämtheit, sogar die Tatsache, daß ich Tony als meine Tochter betrachtete, war keine Entschuldigung. Ich mag besitzgierige, mißtrauische Mütter nicht, doch genauso hatte ich mich benommen.
Doktor Barrett hatte schon gefrühstückt und packte soeben seine Tasche, als ich an seine Hintertür klopfte. Er begrüßte mich herzlich und fragte, ob sich Tony von unserem Abenteuer erholt habe. »Natürlich. Wir haben geschlafen wie Bären. Wir waren eigentlich nicht müde, eher überdreht.«
Er lächelte sehr freundlich. »Ich glaube, Sie fühlten sich in die erste Zeit Ihres Pionierlebens zurückversetzt und erinnerten sich an die historische Reise, die Sie und Larry machten, als Christopher im ungeschicktesten Augenblick auf die Welt kommen wollte.« Jetzt ging es mir besser. Natürlich war ich einfach eine alberne gefühlvolle Frau, die zurückblickte und sentimental wurde. Ich sagte: »Ja, wahrscheinlich hatte es etwas damit zu tun. Das war auch eine solche Nacht und eine solche Straße. Die Menschen in diesem einsamen kleinen Haus sahen so unglücklich aus.«
»Jetzt geht es ihnen gut. Das Krankenhaus ist mit dem Kind ganz zuversichtlich, und ich habe sie heute morgen schon angerufen, um ihnen die gute Nachricht mitzuteilen. Denken Sie jetzt nicht mehr daran. Aber Tony hat viel zuviel Phantasie und Mitleid. Es taugt nichts, sich über die Sorgen aller Menschen aufzuregen. Sie hat nicht dieselben Erfahrungen durchgemacht wie Sie, und Gott sei Dank wird sie das auch nie müssen.«
»Oh, sie würde damit fertig. Tony ist kein schwaches Wesen.«
»Als ob ich das nicht wüßte. Aber sie wird es bestimmt nicht nötig haben.«
Es hatte keinen Zweck zu sagen, daß sie vielleicht dieses Leben mit allen Nachteilen dem konventionellen und zivilisierten Stadtleben vorziehen könnte. Deshalb sagte ich nur: »Sie sind zu diesen armen Leuten sehr, sehr gut gewesen, Oliver.«
Er sah ehrlich erstaunt aus. »Warum nicht? Solange ich hier bin, ist das meine Arbeit.«
>Solange er hier war... < Wie lange würde das sein?